Eigene Forschungen

Montag, 16. September 2013

DIE ZEIT DER GEIER


IL TEMPO DEGLI AVVOLTOI
Italien 1967

Regie:
Nando Cicero

Darsteller:
George Hilton,
Frank Wolff,
Eduardo Fajardo,
Pamela Tudor,
Franco Balducci,
Femi Benussi,
Maria Grazia Marescalchi,
John Bartha


Inhalt:

Der junge Kitosch [George Hilton] ist neben seiner Funktion als Viehtreiber auf dem Hof des patriarchalischen Don Jaime Mendoza [Eduardo Fajardo] auch ein ausgemachter Frauenheld, der regelmäßig mit wechselnden Gespielinnen ins Heu steigt. Als er jedoch Mendozas Frau Steffy [Pamela Tudor], die ihm Avancen macht, abweist, ist diese zutiefst in ihrer Ehre gekränkt und bezichtigt ihn der sexuellen Belästigung. Mendoza lässt Kitosch daraufhin brutal misshandeln. Mit Müh und Not kann er entkommen. Doch als er im Nachbardorf den Sheriff um Hilfe bittet, wird er eingesperrt und soll ausgeliefert werden. Dieses verhindert der 'Schwarze Tracy' [Frank Wolff], ein gesuchter Schwerverbrecher, welcher, um seiner Verhaftung zu entgehen, den Sheriff und seine Mannen mit Blei vollpumpt. Kitosch, der das Geschehen aus seiner Zelle mitverfolgt, rettet wiederum Tracy, indem er einen hinterhältigen Angreifer per Messerwurf abserviert. Zu Dank verpflichtet, befreit ihn Tracy aus seiner Zelle und rettet ihn nachfolgend auch vom Galgen, den Mendozas Leute bereits postiert hatten. Beide Männer tun sich nun zusammen, um einen Goldschatz an sich zu bringen. Doch je länger die Reise dauert, desto mehr merkt Kitosch, mit was für einem Mann er es zu tun hat ...

Kritik:

DIE ZEIT DER GEIER entstand in der Hochphase des Italo-Westerns, der sich, nach einigen holprigen Orientierungsversuchen am klassischen amerikanischen Cowboy-Epos, durch ausgeprägten Zynismus und rohe Brutalität sein eigenes, unverwechselbares Gesicht verschaffte. Drehbuchautor Fulvio Gicca Palli gab sich in diesem Falle allerdings nicht damit zufrieden, das bewährte Erfolgsrezept einfach stumpf wiederzukäuen, sondern kleidete die typischen Genrezutaten in eine verblüffend vielschichtige Selbstfindungsparabel, der es gelingt, die an bestimmte Sehgewohnheiten gekoppelte Erwartungshaltung ihres Publikums immer wieder zu unterlaufen, was zu dessen unabwendbarer Involvierung führt. So macht Nando Ciceros Werk zunächst eher den Eindruck einer leichten Komödie, wenn sich Hauptfigur Kitosch mit einem kichernden Mädchen in der Scheune vergnügt, um sich im Anschluss nach Herzenslust mit ihrem zufällig hinzugekommenen Ehemann eine zünftige Rangelei zu liefern. Nachdem ihn sein Gutsherr Mendoza für diese Verfehlung bestraft hat, verlangt Kitosch im Beisein des Gehörnten noch ein paar Hiebe mehr, die Dame sei es schließlich wert gewesen. Wird also bereits zu Beginn schon eifrig bestraft und gepeitscht, erscheint der zu Grunde liegende Tenor doch noch sehr locker, was sich auch in den Dialogen bemerkbar macht: „Du bist auf meiner Ranch, um die Kühe zu versorgen“, erklärt Mendoza, „aber nur die mit vier Beinen.“

Auch der Look geriet für das Produktionsjahr überraschend sauber und farbenfroh und hat z. B. nichts zu tun mit Sergio Corbuccis Vorjahreserfolg DJANGO, welcher in seiner Dreckigkeit und Brutalität das Gesicht des Italo-Westerns der Folgejahre quasi grundlegend definierte. Schleppte sich Django bereits in der ersten Szene durch einen Berg von Schmutz und Schlamm, so tollt Kitosch hingegen, von fröhlicher Pfeifmusik begleitet, bei seinem ersten Auftritt ausgelassen im Heu. Doch das vermeintliche Idyll verwandelt sich schleichend in einen Ort der Gewalt, als Kitosch der Belästigung Steffy Mendozas beschuldigt wird: Plötzlich sind die Schläge schmerzhaft, die Tritte qualvoll und es werden keine Scherze über zweibeinige Kühe mehr gemacht. Langsam, aber sicher steigert sich die Situation für Kitosch schließlich gar zu einer Bedrohung für sein Leben, entpuppt sich der anfänglich noch humorvoll und anständig scheinende Mendoza doch als grausamer Machtmensch, der Kitosch wegen einer unbewiesenen Nichtigkeit ohne zu zögern hinrichten lassen würde. Bereits zu diesem Zeitpunkt aufgrund des veränderten Grundtons etwas irritiert, weiß der Zuschauer auch nach Kitoschs erfolgreicher Flucht noch nicht so recht, wohin die Reise eigentlich gehen soll. Lange Zeit lässt einen DIE ZEIT DER GEIER im Ungewissen, um einem immer dann, wenn man die weiteren Ereignisse endlich zu ahnen glaubt, doch wieder eine lange Nase zu drehen und sich in eine andere Richtung zu entwickeln. Gerade dieser Verzicht auf geradlinige Bahnen und das neckische Spiel mit der Nichteinhaltung festgefahrener Erzählmuster sind die Ursache dafür, dass das rein inhaltlich nicht sonderlich spektakuläre Werk anhaltendes Interesse erwecken kann.

Als Kitosch schließlich auf den gesuchten Verbrecher 'Schwarzer Tracy' trifft (der gar nicht schwarz ist, sondern nur einen solchen Mantel trägt), und sich beide Männer gegenseitig das Leben retten, scheint es wie der Beginn einer großen Freundschaft. Doch der Eindruck täuscht abermals: Tatsächlich wirkt Tracy zunächst wie ein von seiner Umwelt missverstandener, zu Unrecht vom Gesetz verfolgter Mann, unter dessen rauer Schale ein sensibles Herz schlägt, betrauert er doch aufrichtig den Tod seiner Mutter und nimmt mehrere Gefahren auf sich, um sie auf ihrem eigenen Grund und Boden bestatten zu können. Auch die Rachegefühle, die er gegen seine ehemalige Geliebte und ihren Freund hegt, sind nachvollziehbarer Natur, hatten sie ihn schließlich betrogen und verraten. Im weiteren Verlauf jedoch entlarvt sich Tracy als gewissenloser Mistkerl, der völlig unschuldige Menschen ohne eine Miene zu verziehen über die Klinge springen lässt. Die Gleichgültigkeit, mit der das passiert, wirkt ungemein schockierend, und die anfänglichen Sympathien verschwinden unter einem Berg aus Leichen.

Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist eine Szene, welche bereits kurz nach der Begegnung der beiden Männer stattfindet: „Es wird kühl heute Nacht“, sagt Tracy zu Kitosch und deckt ihn mit seinem Mantel zu. Kitosch ist geradezu gerührt angesichts der vermeintlichen Fürsorge des gesuchten Mörders. Doch nachdem ihr Schlaflager mitten in der Nacht überfallen wurde, begreift er den wahren Hintergrund der Tat: Tracy wusste von seinen Verfolgern und kleidete Kitosch lediglich in seinen Mantel, um sie so zu täuschen und hinterrücks erschießen zu können. So humorvoll diese Szene auch umgesetzt wurde, beschreibt sie dennoch bereits den Verlauf der weiteren Ereignisse: Tracy ist kein liebenswerter Gauner mit dem Herz am rechten Fleck, sondern ein ausschließlich auf seinen eigenen Vorteil bedachter, gefühlskalter Verbrecher, dem andere Menschenleben nichts bedeuten.

Dass Kitosch dem sich mehr und mehr als kaltherziger Sadist entpuppenden Tracy für eine erstaunlich lange Zeit sein nahezu bedingungsloses Vertrauen schenkt, lässt sich dabei nicht allein durch dessen Dankbarkeit erklären und wirkt angesichts der Gewalttaten Tracys auch nicht immer ganz nachvollziehbar. Allerdings gelingt es dem Drehbuch recht elegant, die größten Fallstricke zu umgehen und einige durchaus glaubwürdige Bedingungen für diesen Umstand zu schaffen: So leidet Tracy an Epilepsie, was dem brutalen Killer, wenn er während seiner Anfälle hilflos wie ein kleines Kind zappelnd auf dem Boden liegt, immer wieder auch menschliche, bemitleidenswerte Züge verleiht. Zudem erscheint – typisch für den Italo-Western – auch die ehrenwerte Gesellschaft kaum einen Deut besser als die steckbrieflich gesuchten Schwerverbrecher: Der gutbürgerliche Mendoza darf sich, aufgrund seines Reichtums, quasi seine eigenen Gesetze erschaffen, und der Sheriff und seine Mannen denken bei der Festnahme Tracys händereibend nur an den Schotter, den ihnen diese einbringen wird. Es ist eine raue Welt, in der Kitosch lebt, in der tatsächliche Nächstenliebe eher die Ausnahme als die Regel darstellt. Tracy erscheint ihm da lediglich als die geballte, gewalttätige Antwort auf die alltäglichen Unmenschlichkeiten und als längst überfälliger Befreiungsschlag.

Aus dieser ungewöhnlichen Gemeinschaft, einerseits auf purem Zweck, andererseits jedoch auch auf einer sinnwidrigen Sympathie beruhend, erwächst ein enormes Konfliktpotential, aus welchem DIE ZEIT DER GEIER seine explosive Spannung schöpft, zusammen mit dem Reifeprozess, welchem der Hauptcharakter hier unterliegt: Ist Kitosch anfangs noch ein sorgloser Schlendrian, der Prügel und Folter zwar wegsteckt, jedoch, wenn überhaupt, dann nur halbherzig auf die Idee kommt, sich auch mal zur Wehr zu setzen, erscheint er nach seiner Rückkehr als überaus selbstbewusster Mann, der zwar von Tracy gelernt hat, sich nichts mehr gefallen zu lassen, allerdings gleichzeitig auch seinen aggressiven Charakter angenommen hat. Zwar wirkt diese Entwicklung von George Hilton nicht immer ganz glaubwürdig gespielt, nimmt man ihm doch den arglosen Luftikus viel eher ab als den harten Sauhund, doch verstehen es Skript und Regie hervorragend, seine emotionale Reise greifbar zu machen.

George Hilton [→ DER SCHWANZ DES SKORPIONS] heißt eigentlich Jorge Hill und kam aus Uruguay nach Italien, um dort quasi im Rekordtempo zu einem der der beliebtesten Westerndarsteller aufzusteigen. Zwar kamen seine Filme (die in Deutschland häufig mit einem DJANGO-Titel verziert wurden) nur selten über ein solides Mittelmaß hinaus, doch tat das seiner Beliebtheit keinen Abbruch. Mag Hilton bei manchen emotionalen Momenten DIE ZEIT DER GEIERs auch ein wenig überfordert wirken, besitzt er doch das nötige Charisma, um die Sympathien schnell auf seiner Seite zu haben. Ihm zur Seite steht Frank Wolff [→ EIN DOLLAR ZWISCHEN DEN ZÄHNEN], der als 'Schwarzer Tracy' eine erneute Glanzleistung abliefert und einen durch und durch undurchsichtigen Charakter verkörpert, für den man abwechselnd sowohl Anteilnahme als auch Abscheu empfindet – eine Paraderolle für den in den USA geborenen Schauspieler, dem, vor allen in Western, häufig der Part des Antagonisten zufiel, wobei es ihm meistens gelang, seine Figuren nicht in einem tumben Klischee erstarren zu lassen, sondern ihnen eine psychologische Vielschichtigkeit zu verleihen. Doch auch in positiven Rollen konnte Wolff überzeugen. Am 12. Dezember 1971 nahm er sich das Leben. Er wurde nur 43 Jahre alt.

DIE ZEIT DER GEIER ist weniger klassisches Abenteuerkino, als eine zwar nicht immer glaubhafte, doch sorgfältig entwickelte Charakterstudie, die von dem höchst doppelbödigen Verhältnis seiner Figuren zueinander lebt. Und obwohl das staubige Spektakel für Actionfreunde auch ausreichend Pulverdampf und Munitionsverbrauch bietet, resultiert das Großmaß an Spannung doch aus seiner faszinierenden Ereigniskette: Eine zunächst harmlos scheinende Eifersüchtelei und die Lüge einer gekränkten Frau setzen einen unaufhaltsamen Prozess in Gang, führt zur einer von Blut und Blei gesäumten Selbstfindungsreise eines jungen Mannes, und resultiert schließlich in einem exzessiven Gemetzel, welches das Leben unzähliger Menschen ändern wird oder enden lässt. Ein paar Eigenartigkeiten muss man schon hinnehmen (So erweist sich Kitosch, als Tracy ihm das Schießen beibringen möchte, als geübter Scharfschütze - woher er diese Fähigkeit hat und warum er sie zuvor niemals angewendet hat, bleibt bis zum Schluss ungeklärt), doch hat man es hier dennoch mit einem von Anfang bis Ende mitreißenden Revolvermärchen zu tun, das aufgrund seiner erfrischenden Brechung dogmatischer Genre-Regeln und seiner ambivalenten Charakterzeichnung zu einem packenden Erlebnis wird und dessen herzzerreißendes Ende noch lang im Gedächtnis verbleibt. DIE ZEIT DER GEIER ist eine gute Zeit.

Laufzeit: 94 Min. / FSK: ab 16

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