Eigene Forschungen

Dienstag, 10. September 2013

FLUCHTWEG ST. PAULI - GROSSALARM FÜR DIE DAVIDSWACHE


FLUCHTWEG ST. PAULI – GROSSALARM FÜR DIE DAVIDSWACHE
BRD 1971

Regie:
Wolfgang Staudte

Darsteller:
Horst Frank,
Heinz Reincke,
Klaus Schwarzkopf,
Christiane Krüger,
Siegurd Fitzek,
Heidy Bohlen,
Ulrich Beiger



„Er macht rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch!“ 


Inhalt:

Der brutale Bankräuber Willi Jensen [Horst Frank] bricht aus dem Gefängnis aus. Doch als er die vor seiner Inhaftierung versteckte Beute an sich nehmen möchte, wird er fassungsloser Zeuge, wie das Haus, welches dieser als vermeintlich sicheres Lager diente, gerade eingerissen wird. Das Geld ist futsch. Doch nicht nur das: Als er seinen Bruder, den rechtschaffenden Taxifahrer Heinz [Heinz Reincke], aufsucht, stellt er fest, dass seine Frau Vera [Christiane Krüger] inzwischen dessen Geliebte ist. Bebend vor Zorn plant er seinen nächsten Coup: einen Einbruch in die Villa des Millionärs Berndorf [Ulrich Beiger]. Doch nachdem Willi wie geplant eingestiegen ist, wird er von Liliane [Heidy Bohlen], der Frau des Beraubten, überrascht. Willi wird zum Mörder. Mit Vera als Geisel versucht er nun, sich ins Ausland abzusetzen. Doch nicht nur sein Bruder, auch Kommissar Knudsen von der Hamburger Polizei [Klaus Schwarzkopf] ist ihm bereits dicht auf den Fersen.

Kritik: 

FLUCHTWEG ST. PAULI läuft noch nicht einmal zwei Minuten, da ist bereits der erste blanke Busen im Bild. Es ist also eindeutig ein guter Film.

Dennoch sollte man sich davor hüten, aufgrund dieses sehr enthüllenden Auftakts falsche Erwartungen an die folgenden 80 Minuten zu hegen: Trotz gelegentlich aufblitzender nackter Tatsachen und des marktschreierisch im Titel drapierten Wörtchens „St. Pauli“, handelt es sich bei Wolfgang Staudtes routiniert in Szene gesetztem Genre-Werk nämlich nicht etwa um ein die Triebe spekulativ ausschlachtendes Schmuddelstück, sondern um einen mit jeder Menge Lokalkolorit ausgestatteten und von schmissigem Easy Listening Sound begleiteten Polizei- und Gangsterkrimi, der das Rotlichtmilieu lediglich als attraktive Kulisse nutzt für seine fast schon biblisch anmutende Geschichte zweier Brüder, die dermaßen übertrieben gegensätzlich gezeichnet wurden, dass sich glatt die hanseatischen Balken biegen:

Auf der einen Seite steht Willi Jensen [Horst Frank], der auf seiner Jagd nach Reichtum selbst vor Entführung und Mord nicht zurückschreckt und sich, wenn es denn sein muss, noch nicht einmal scheut, seinem angetrauten Eheweib eine saftige Ohrfeige zu verpassen – ganz eindeutig ein böser Kerl. Auf der anderen Seite hingegen steht sein Bruder Heinz [Heinz Reincke], der als durch und durch anständiger Taxifahrer nicht mal auch nur im Ansatz auf die Idee käme, sich an seiner volltrunkenen Kundin, die sich gerade in seinem Dienstfahrzeug entblättert hat, in irgendeiner Art und Weise unzüchtig zu vergreifen, und sogar, neben besagter Dame, auch ihren prall gefüllten Geldbeutel brav mit auf der Wache abgibt. Und als wäre das nicht bereits genug der guten Taten, spart er sich von seinem schmalen Gehalt auch noch ein erkleckliches Sümmchen zusammen, um seinem gefallenen Bruder nach dessen Knastaufenthalt ein neues Leben ermöglichen zu können.

Das vorzeitige Aufeinandertreffen beider Parteien führt dennoch zu allerlei gewalttätigen Auseinandersetzungen, die der für den Fall zuständige Kommissar Knudsen [Klaus Schwarzkopf], welcher in der Regel eher durch Zufall als durch gekonnte Ermittlungsarbeit an den Orten des Geschehens zugegen ist, mehr oder weniger gleichgültig zur Kenntnis nimmt. Als Jensen seine Frau Vera [Christiane Krüger] zur Geisel nimmt, zieht Knudsen nur schulterzuckend von Dannen, nicht ohne zuvor seinen jungen Kollegen zu rüffeln, der doch tatsächlich auf die alberne Idee kam, eine Fahndung nach Jensen einzuleiten. Und auch der Rest der Polizei glänzt hier nicht gerade mit Engagement und Cleverness, sondern wartet bevorzugt einfach ab, bis sich die Unterwelt gegenseitig ans Messer liefert. Damit stemmt sich FLUCHTWEG ST. PAULI, ob nun gewollt oder ungewollt, gegen das vor allem im Ausland propagandierte Bild des stahlharten Superpolizisten und präsentiert stattdessen ein eher kumpelhaftes Verhältnis zwischen Beamten und Bürger, welche hier quasi auf Augenhöhe miteinander agieren.

Die Vorzüge ihres Schauplatzes Hamburg immer wieder gekonnt ins Bild rückend, tauscht die zwar realitätsferne, doch hochunterhaltsame Räuberpistole dabei Glaubwürdigkeit und ausgeklügelte Spannungsdramaturgie gegen eine Extraportion nordisches Flair ein. Als Jensens Flucht vor dem Gesetz ihn, von wabernden Klangteppichen begleitet, auf und über die Dächer der Stadt führt, fängt die Kamera nicht nur ihn, sondern auch das monströs anmutende Hafengebiet im Hintergrund ein. Die geschäftige Metropole wird zum permanenten Nebendarsteller, zur siedenden Kulisse für Niedertracht und Missetat. Wenig überraschend dabei, fast schon obligatorisch, dass auch die Gutbetuchten nicht wirklich mehr Moral am Leibe haben, als der gemeine grobschlächtige Unterweltvasall: Als Millionär Berndorf, mit abstoßend unterschwelliger Verschlagenheit verkörpert von Ulrich Beiger [→ DER FROSCH MIT DER MASKE], die Leiche seiner Frau entdeckt, ruft er, nach pflichtbewusster Verständigung der Polizei, unverzüglich und mit sichtlich zufriedener Miene seine Geliebte an, um ihr die frohe Botschaft mit süffisanter Freude zu verkünden, während man die Verblichene im Hintergrund auf dem teuren Teppich liegen sieht.

Der Mord an der Gattin Berndorfs ist dann auch eine der gelungensten Szenen FLUCHTWEG ST. PAULIs: Aus heiterem Himmel beginnt das noch ahnungslose alkoholgeschwängerte Opfer zu grandios psychedelischem Schrammelrock eine merkwürdig-ungelenke Tanznummer zu zelebrieren, bevor es von Jensen hinterrücks erdrosselt wird. Während sich die Frau im Todeskampf windet und die Musik dazu unerbittlich weiterschrammelt, gilt Jensens Blick im selben Moment einzig und allein den auf dem Tisch platzierten Juwelen – ein fabelhaft zynischer Augenblick, der an die italienischen Gialli der 70er Jahre erinnert, welche den Tötungsakt als stilvolle Kunstform zu inszenieren wussten.

Willi Jensen wird vom damaligen Publikumsliebling Horst Frank [→ DJANGO – DIE TOTENGRÄBER WARTEN SCHON] in bewährt ruppiger Art als phänomenal garstiger Schmierlappen zum Leben erweckt, dem auf fast schon krankhafte Weise Geld und Gold über alles gehen. Werte, die nicht materieller Natur sind, scheinen ihm hingegen vollkommen gleichgültig zu sein. Der ebenso rabiate wie feige Ganove ist geradezu eine Bilderbuchrolle für den bärbeißigen Frank, der erneut einige große darstellerischen Momente für sich verbuchen kann. Seine Mimik, als ihm klar wird, dass die versteckte Beute für immer verloren sein wird, ist unschlagbar. „Dann war das ja alles umsonst, Mensch!“, jammert er mit brüchiger Stimme, den Tränen nah, doch verzweifelt um Fassung ringend. Mit Heinz Reincke [→ WENN ES NACHT WIRD AUF DER REEPERBAHN] castete man als Sympathieträger ebenfalls eine waschechte Type, die einem klassischen Hollywood-Helden unähnlicher nicht sein könnte. Weder attraktiv noch sonderlich gewitzt erscheint Reincke stattdessen wie der dufte Kumpel von nebenan. Vorurteile hegt er gegen nichts und niemanden, und mit den Prostituierten der Roten Meile plaudert er nicht minder kameradschaftlich und respektvoll als mit den Autoritätspersonen vom hiesigen Polizeirevier. Als ihm seine missliche Situation über den Kopf zu wachsen scheint und er sich aufgrund dessen hemmungslos in einer Bar besäuft, möchte man ihn glatt selbst in den Arm nehmen und ihm zum Trost einen Kaffee zu spendieren.

Aufgrund seiner geerdeten Figuren voller Kanten und Konturen gelingt FLUCHTWEG ST. PAULI dann auch die emotionale Involvierung seines Publikums. Die Charaktere wirken hier nicht etwa wie realitätsferne Gestalten aus wildfremden Sphären, mit denen eine Identifikation quasi unmöglich erscheint, sondern wie authentische Personen, von denen man sich vorstellen könnte, dass sie tatsächlich existieren, was FLUCHTWEG ST. PAULI, zusammen mit seinem glaubwürdig gezeichneten Schauplatz, an manchen Stellen sogar einen dokumentarischen Touch verleiht. Die Handlung hingegen ist nicht selten ernüchternd unplausibel, und das von Zufällen und gnadenlos konstruierten Verhaltensweisen beherrschte Skript besticht auch nicht gerade durch ausgemachte Pfiffigkeit.

Dennoch ist FLUCHTWEG ST. PAULI ein lohnendes Abenteuer für all jene, die schon längst vergessen haben, dass das deutsche Kino mehr zu bieten hat als Liebeskarussells und Vergangenheitsbewältigung. Reeperbahn und Elbchaussee bilden die Kulisse für ein wunderbar leichtes, erstaunlich unbiederes Ganovenstück, das weder belehren noch moralisieren, sondern lediglich 80 Minuten anspruchslose Zerstreuung bieten möchte. Die mit etwas Erotik und einer Prise Action (im Finale liefern sich Auto und Motorrad eine fetzig gefilmte Verfolgungsjagd) versetzte Mischung aus Groschenroman, Bruderdrama und Gangsterkrimi funktioniert prächtig und der jazzig-beschwingte Soundtrack lädt zum rhythmischen Mitschnippen ein. Einen „Hintertreppen-Krimi“ nannte das konservative 'Lexikon des internationalen Films' Staudtes Werk in gewohnt abschätziger Art und Weise und übersah dabei völlig, dass auch auf Hintertreppen ganz tolle Dinge passieren können. Moppen nach nicht mal zwei Minuten – was soll da noch schiefgehen?

Laufzeit: 83 Min. / Freigabe: ab 16

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