Eigene Forschungen

Montag, 29. Juli 2013

PACIFIC RIM


PACIFIC RIM
USA 2013

Regie:
Guillermo del Toro

Darsteller:
Charlie Hunnam,
Rinko Kikuchi,
Idris Elba,
Max Martini,
Ron Perlman,
Burn Gorman,
Charlie Day,
Clifton Collins Jr.



„Um Monster zu bekämpfen, erschufen wir selbst Monster.“


Inhalt:

Die Welt der Zukunft ist nicht mehr das, wie sie war: Den Tiefen des Meeres entsteigen riesenhafte Monster, 'Kaijūs' genannt, die, vermutlich gesteuert von einer fremden Macht, die Städte der Welt vernichten. Diese hat ihre Konflikte mittlerweile beigelegt: Alle Nationen kooperieren zugunsten der Rettung der Erde. Um die Monster zu besiegen, werden riesige Kampfroboter gebaut, die 'Jäger', welche jeweils von zwei Piloten im Inneren per Gedankenkraft gesteuert werden. Raleigh Becket [Charlie Hunnam] und sein Bruder Yancy [Diego Klattenhoff] harmonieren im Kampf perfekt miteinander – bis Yancy bei einem Einsatz ums Leben kommt. Voller Gram zieht Raleigh sich zurück. Doch dann bedrängt ihn Captain Pentecost [Idris Elba], ins 'Jäger'-Programm zurückzukehren: „Es geht zuende mit der Welt. Wenn Sie sterben, wo wollen Sie dann sein? Hier oder in einem 'Jäger'?'

Kritik:

Hochhausgroße außerirdische Monster, die die Erde zerstören wollen und sich mit gigantischen, von Menschenhirn gesteuerten Kampfrobotern wildeste Schlachtfeste zu Lande, zu Wasser und in der Luft liefern – niemand würde ernsthaft bestreiten wollen, dass es sich dabei um ganz große Kunst handelt. Werner Herzog, Federico Fellini und François Truffaut raufen sich kollektiv die Haare und fragen sich: 'Warum, zum Teufel, ist mir das bloß nicht eingefallen?' 

Stattdessen ergriff der Mexikaner Guillermo del Toro [→
HELLBOY] die Gelegenheit beim Schopfe und kreierte mit auffallend viel kindlicher Begeisterung PACIFIC RIM
- eine unter allem krachendem Hollywoodbombast doch sehr liebevolle Verbeugung vor dem Kaijū Eiga, dem japanischen Monsterfilm. Regisseur Inoshiro Honda (der, neben Ray Harryhausen, auch im Abspann PACIFIC RIMs gewürdigt wird) erschuf 1954 mit GODZILLA den ersten Beitrag dieses im Laufe der Zeit zum Kult gewordenen Subgenres, damals noch von düsterer Atmosphäre geprägt und voller Bitterkeit. Der Erfolg beflügelte die Macher, eine Flut von Fortsetzungen und Epigonen brach los, und schon bald wurde das Geschehen bunter, die Monster zahlreicher und der Pessimismus wich infantilem Vergnügen. ROBOTER DER STERNE, ein unter abenteuerlichen Umständen in Japan und Hongkong entstandener fröhlicher Unfug, in welchen eine (wirklich sehr) kleine Spezialeinheit mit einem riesigen Roboter gegen außerirdische Invasoren kämpft, war eines der abstrusen Höhepunkte dieser Auswüchse und wirkt nicht nur aufgrund seines Inhalts wie eine Blaupause für den freilich ungleich aufwändiger gestalteten PACIFIC RIM.

'Kaijūs' werden die Monster im Film dann auch wirklich genannt und deren Design orientiert sich eindeutig an den japanischen Vorbildern. Bereits eines der ersten Ungeheuer, treffenderweise als 'Messerkopf' bezeichnet, erinnert gewiss nicht nur zufällig an das
GAMERA-Monster Guiron, welches tatsächlich eine frappierende Ähnlichkeit mit einem lebenden Brotmesser aufwies. Die Kaijū-Entwürfe PACIFIC RIM
s gerieten dann auch durch die Bank äußerst fantasievoll und obwohl die Monster hier natürlich komplett am Rechner entstanden, gelang es, die etwas schwerfälligen Bewegungsabläufe der asiatischen Originale (resultierend aus dem Umstand, dass dort Menschen in beengten Latexkostümen schwitzten) überzeugend zu imitieren. Dass die Effekte im Gegensatz zur Vorlage allesamt per Computertechnik entstanden, ist selbstredend, und die Darsteller dürften sich nur selten abseits des Blauschirms aufgehalten haben. Das Ergebnis geriet äußerst überzeugend, die meterhohen Kampfkolosse und Ungetüme fügen sich nahtlos in das reale Umfeld ein, ohne ihren digitalen Hintergrund preisgeben zu müssen. Das ist zwar beeindruckend auf der einen Seite, jedoch auch wenig überraschend auf der anderen: Tricktechnische Perfektion gehört zum Hollywoodstandard und bringt bei allem Respekt auch immer das Defizit glattbebügelter Kantenlosigkeit mit sich – ein Vorwurf, den sich PACIFIC RIM ebenfalls gefallen lassen muss. Allerdings war man dennoch klug genug, sich der Vorlage optisch so weit anzunähern, dass der Animationscharakter dabei deutlich in den Hintergrund tritt.

Erfreulicherweise bändelte man auch inhaltlich mit den liebgewonnenen Spinnereien der Vorlage an. Bereits die Grundidee, zur Abwehr riesiger Monster auf den Einsatz ebenfalls riesiger Roboter zu bauen, ist dermaßen erfrischend abstrus, dass der kleine Junge im Manne begeistert Beifall klatscht. Und auch die daraus resultierenden Unplausibilitäten (Warum bauen die Menschen nicht einfach Roboter, die
noch größer sind als die Monster? Warum kämpft jeweils immer nur ein
Roboter gegen den Gegner?) sind unverzichtbarer Bestandteil des Genres und gehören zum Erlebnis der ultimativen Realitätsflucht schlichtweg dazu. Unbestreitbar steckte man also tatsächlich jede Menge bemerkbares Herzblut in eine respektsvolle Ehrerbietung des Kaijū Eigas. Aus seiner Haut kann PACIFIC RIM letztendlich allerdings doch nicht: Es ist und bleibt ein von Hollywood auf Blockbuster gekämmtes Eventkino mit all den Klischees, die so etwas mit sich bringen muss. Auch hier begegnet man dem gestrauchelten Helden, der schließlich wieder über sich selbst hinauswachsen muss, dem arroganten Widersacher, der seine Lektion zu lernen hat und dem strengen, doch eigentlich warmherzigen Anführer, welcher, wie spätestens seit INDEPENDENCE DAY üblich, kurz vor der finalen Schlacht noch eine feurige Motivationsrede halten darf (die dieses Mal allerdings reichlich läppisch ausfiel).

Aufgemotzt mit Heldentum und Heilandssymbolik, verschwendet das Drehbuch dann auch auffallend viel Zeit für allerlei oberflächliche Bagatellen, die in ihrer Belanglosig- und Formelhaftigkeit trivialer wirken, als jede zünftige Monsterschlacht es je sein könnte. Das ist umso ärgerlicher, da es anfangs bereits von Null auf Hundert in die Vollen ging: Schon nach ein paar Sekunden donnert der erste brachiale Kampf, anstatt einer langwierigen Vorgeschichte werden die vorhergehenden Ereignisse im Offkommentar zusammengefasst. Fast wirkt es, als habe man Teil 1 verpasst und sähe stattdessen auf Anhieb die Fortsetzung. Dass der anfängliche Ballastverzicht im weiteren Verlauf dann doch wieder stereotypischen Erzählmustern weichen muss, darf gut und gern als Enttäuschung gewertet werden. Dabei ist der Gedanke, die Charaktere mit einem interessanten Innenleben auszustatten, durchaus kein völlig verkehrter, zumal die intakte Psyche eines Menschen auch inhaltlich eine Rolle spielt
(denn nur so lassen die Roboter gedanklich steuern). Dass man sich dafür jedoch sattsam bekannter Kamellen bediente, die in Thematik und Dialog wie aus jedem zweiten Tiefgründigkeit heuchelnden Hollywoodfilm herüberkopiert wirken, ist ein kaum zu leugnendes Ärgernis, das einen
kaijūgroßen Schatten auf die Gewitztheit der Macher wirft.

Doch noch einen weiteren kapitalen Fehler begeht
PACIFIC RIM
: So liebevoll die Monster auch gestaltet wurden, so rücksichtslos wurden sie auch verheizt. Einer der Erfolgsrezepte der japanischen Vorbilder war es, jedes Kaijū mit einer eigenen Identität auszustatten und ihm im Kampf ausreichend Zeit zu gewähren. Hier jedoch ist davon nichts zu spüren. Worin genau jetzt die Gefährlichkeit der einzelnen Ungeheuer (abgesehen von ihrer Größe und Aggressivität) eigentlich besteht, wird nie so recht deutlich. Zwar werden sie in verschiedene Kategorien eingeteilt, doch letztendlich ist eines wie das andere. Und auch die Kämpfe sind zu kurz (und zudem häufig noch unübersichtlich) gestaltet, als dass eine funktionierende Beziehung zu den Monstern aufkommen könnte.

Viele Worte über die Darsteller zu verlieren, wäre müßig - die wahren Hauptdarsteller
PACIFIC RIMs sind deutlich höher als 1,80 Meter. Charlie Hunnam [ → CHILDREN OF MEN] wirkt als Held ebenso langweilig und ausdruckslos wie Robert Kazinsky [→ RED TAILS] als sein Kontrahent. Idris Elba [→ PROMETHEUS] als Anführer der Truppe besitzt da schon deutlich mehr Charisma, bleibt jedoch hinter seinen Möglichkeiten zurück. Als obligatorische Witzfiguren kaspern sich Charlie Day [→ KILL THE BOSS] und Burn Gorman [→ THE DARK KNIGHT RISES] als depperte Wissenschaftler lachhaft überzogen und kaum komisch durch das Szenario, während Regie-Liebling Ron Perlman [→ BLADE 2
] erneut seine „Ich bin der Coolste“-Nummer abzieht. Wirklich positiv heraus sticht lediglich Rinko Kikuchi [→ BABEL], die nicht nur zusätzliches asiatisches Flair in das (ansonsten so gut wie ausschließlich männerdominierte) Geschehen bringt, sondern sich in ihrer zurückhaltenden Art auch wohltuend von den üblichen amerikanischen Sexsymbolen abhebt, welche normalerweise mit Hot Pants und tiefen Einblicken durch derartige Szenarien turnen. Guillermo del Toro ist halt eben doch kein Michael Bay, der mit TRANSFORMERS zwar ähnlich geartete, doch deutlich sexistischere und militärverliebtere Unterhaltung bot. Während letzterer vor allem amerikanischen Hurra-Patriotismus bis zum Exzess zelebrierte, bleibt PACIFIC RIM auch in dieser Hinsicht eher bescheiden: Der Weltrettungsjob ist ein internationaler – wer hat noch nicht, wer will noch mal?

PACIFIC RIM mag seine Einschränkungen haben, ist jedoch unter'm Strich eine überaus gelungene Hommage, die den Kult um japanische Schauspieler im Gummikostüm mit den Ingredienzien des amerikanischen Blockbusters verschmilzt und in der sich Riesenmonsterfreunde sehr wohlfühlen dürften. Haufenweise Anspielungen auf den GODZILLA-Kult (so werden die Kaijūs kurzerhand als Spielfiguren vermarktet und die Trainingssequenz, in welcher die Kompatibilität zweier Piloten getestet wird, erinnert wohl nicht zufällig an eine ähnliche Szene aus GODZILLA – FINAL WARS) sowie die japanische Kultur (so kann eines der Monster nur mithilfe eines zwischen all dem Technikfirlefanz reichlich altmodisch anmutenden Schwertes besiegt werden – beste Samurai-Tradition!) halten das Publikum ganz hübsch in Schach. Der Rest der Zweifel verschwindet im Schlachtgewitter: Funken sprühen, Blitze zucken und es scheppert lauter als beim Iron Maiden-Konzert. Ein RIM-Job, der Freude macht.

Laufzeit: 131 Min. / Freigabe: ab 12

Dienstag, 23. Juli 2013

ONLY GOD FORGIVES


ONLY GOD FORGIVES
USA, Thailand, Frankreich, Schweden 2013

Regie:
Nicolas Winding Refn

Darsteller:
Ryan Gosling,
Kristin Scott Thomas,
Tom Burke,
Yayaying,
Vithaya Pansringarm,
Byron Gibson,
Gordon Brown,
Sahajak Boonthanakit



„Die Damen sollten jetzt die Augen schließen.“


Inhalt:

Der Amerikaner Billy [Tom Burke] schändet und ermordet in Bangkok eine minderjährige Prostituierte. Diese Tat setzt eine blutige Ereignisspirale in Gang: Der Polizist Chang [Vithaya Pansringarm] sperrt den Vater der Toten mit Billy in einen Raum, was letzterer nicht überlebt. Billys Mutter Crystal [Kristin Scott Thomas] reist daraufhin aus den Staaten an, um ihren jüngeren Sohn Julian [Ryan Gosling] zum Rachemord zu überreden. Julian jedoch, der lebenslang im Schatten seines brutalen Bruders stand, hat Bedenken. Daraufhin heuert Crystal einen Auftragskiller an. Dieser jedoch gerät bei Chang an seinen Meister und wird selbst Opfer unmenschlicher Grausamkeit. Schließlich treffen Chang und Julian aufeinander.

Kritik:

Hände! Immer wieder starrt Ryan Gosling auf seine Hände. Und das liegt nicht nur daran, dass er als Julian die Rolle eines Boxers verkörpert: Hände begehen Taten. Und Hände können Taten verhindern.

Nach dem hochgelobten DRIVE aus dem Jahre 2011 schickte der dänische Regisseur Nicolas Winding Refn den kaum weniger gefeierten Mimen Ryan Gosling zum zweiten Male auf eine großartig gefilmte, gewaltreiche Tour de Force, die jedoch, abgesehen von der kunstvollen Inszenierung und dem abermals grandiosen Hauptdarsteller, erstaunlich wenig Gemeinsamkeiten mit dem Vorgänger bereithält: Die recht geradlinige Erzählweise DRIVEs weicht hier oft skurillen Momentaufnahmen, deren Sinn sich einem, sofern überhaupt, erst in größerem Zusammenhang erschließt. Tatsächlich gleichen die Ereignisse eher einem fiebrigen Albtraum, was durch die brodelnde Kulisse Thailands noch verstärkt wird. ONLY GOD FORGIVES ist wahrlich keine leichte Kost und zeichnet ein niederschmetterndes, gewaltgetränktes Schreckensszenario menschlicher Grausamkeiten, dessen Figuren wie schlaftrunken durch das bedrückende Geschehen taumeln. Nicolas Winding Refn zelebriert meditative Langsamkeit und setzt dazu ganz auf die suggestive Kraft seiner bis ins Detail durchdachten Bildkompositionen. Das ist für Ästheten ein Fest, Actionjunkies, durch Titel, Setting und Werbung womöglich in die Irre geführt, könnten sich hingegen rasch fehl am Platze fühlen.

Denn im Gegensatz zu DRIVE, dessen grundsätzliche Ruhe immer noch durch einige ungewöhnlich komponierte Geschwindigkeitszelebrationen unterbrochen wurde, herrscht hier insgesamt eine verblüffende Actionarmut. Refn macht es seinem Publikum dabei nicht gerade einfach, beginnt Szenen, bricht sie wieder ab, um sie an anderer Stelle weiterlaufen zu lassen, spielt mit Kameraeinstellungen und Raumgestaltung, mit rot-gelbem Licht und immer wiederkehrenden Symbolen. Wer von Ryan Gosling einen ähnlich coolen Auftritt wie als namenloser Stuntfahrer erwartet, dürfte ebenfalls eine mindestens mittlere Enttäuschung erleben: Verkörperte Gosling in DRIVE eine zwar einsame, doch nichtsdestoweniger seinen Mitmenschen klar überlegene Person, erlebt man ihn in ONLY GOD FORGIVES als vollkommen gebrochenen Charakter, als seelischen Krüppel, der, zeit seines Lebens um die Gunst seiner ebenso beherrschenden wie grausamen Mutter ringend, in eine sinnlose Leere läuft. Als er Chang gar zum Zweikampf herausfordert, bekommt er von diesem im Anschluss gnadenlos und alles andere als heldenhaft die Fresse poliert – das wär dem ‚Driver‘ nie passiert!

Obwohl mit seinem Namen beworben, ist Gosling nicht einmal die eindeutige Hauptfigur ONLY GOD FORGIVES', sondern vielmehr lediglich eine von vielen verirrten Charakteren, welche diese düstere Parallelwelt bevölkern. Die Funktion einer zentralen Person erfüllt noch am ehesten Vithaya Pansringarm in der Rolle des Selbstjustizpolizisten Chang, der als Richter und Henker zugleich über Leben und Tod der Verworfenen entscheidet. Haben die Unholde Glück, entfernt seine Schwertklinge lediglich einen ihrer Arme, haben sie es nicht, zerschneidet sie gleich den gesamten Torso. So absurd es klingt, ist Chang (dessen Name innerhalb der Handlung nie tatsächlich genannt wird) doch noch der positivste Charakter in diesem Höllenszenario, scheint er doch als einziger über eine Art von Gerechtigkeitssinn zu verfügen. Dass er dafür zum Racheengel (und somit ebenfalls zum Mörder) werden muss, ist bezeichnend für die Ausweglosigkeit, in welcher sich die Figuren befinden. Immer, nachdem er ein weiteres Urteil vollstreckt hat, sieht man Chang in einer Karaokebar singen. Es klingt nicht schön. Aber es ist gleichzeitig das Menschlichste, wozu man hier in der Lage sein könnte.

Zwar ist Thailand der Schauplatz, doch scheinen die Protagonisten tatsächlich in einer vollkommen fremden moralbefreiten Welt zu existieren, in welcher sich die Unfähigkeit zur Kommunikation auf dem Höhepunkt befindet. Gesprochen wird in ONLY GOD FORGIVES ohnehin kaum. Nicht etwa, weil es nichts zu sagen gäbe, sondern weil das Sprechen größtenteils verlernt zu sein scheint. Am meisten Text hat daher auch Kristin Scott Thomas in der Rolle der zugereisten Crystal, die jedoch hauptsächlich mit menschenverachtenden Beleidigungen um sich wirft. Crystal ist dann gleichzeitig auch eine der Schlüsselfiguren: Als treibende manipulative Kraft setzt sie die blutigen Ereignisse erst richtig in Gang. Perfekt versteht sie es dabei, ihrem verbleibenden Sohn Minderwertigkeitsgefühle einzuimpfen, indem sie ihm immer wieder zu verstehen gibt, dass sie seinen toten Bruder stets bevorzugte. Der inzestuöse Hintergrund dieser Beziehung ist dabei eindeutig und erfolgter Kindesmissbrauch mehr als wahrscheinlich: „Ich will sie so jung wie möglich“, sagt Billy, kurz bevor er zum Mädchenmörder wird. Als man Crystal mit seiner blutigen Tat konfrontiert, fällt ihre Antwort nach kurzer Pause sehr lapidar aus: „Ich bin mir sicher, er hatte seine Gründe.“ Während Billy seine Beziehungsunfähigkeit durch sexuelle Perversionen und Gewaltexzesse zu kompensieren versucht, geht Julian im Gegenzug den passiven Weg: Zwar hat er zumindest so etwas Ähnliches wie eine Freundin, doch schafft er es nicht, sie auch nur zu berühren, lässt sich lediglich von ihr fesseln, um ihr bei der Masturbation zuzusehen – ein treffendes Bild für Julians Ohnmachtsgefühl, das sich wie ein Leitfaden durch die Handlung zieht.

Dunkle Flure, Türen, hinter denen man das Grauen erwartet, unwirklich flackernde Lichter und heftige Gewalteruptionen – es ist kein Zufall, dass ONLY GOD FORGIVES über weite Strecken inszeniert ist wie ein Horrorfilm, werden doch die scheußlichsten Winkel der menschlichen Seele ausgelotet. Die Gewaltakte sind dabei in ihrer teilweise quälend expliziten Darstellung gewiss nicht unprovokant und auf ihre Schockwirkung bauend eingesetzt, doch verdeutlichen sie auch, in welch brutaler Umgebung man sich befindet, in welcher Grausamkeit gegen Menschen längst zum Alltag zu gehören scheint.

ONLY GOD FORGIVES erklärt nichts, verspricht nichts, hält nichts. Eine vorkauende Vorstellung der in unwirkliches Licht getauchten Charaktere findet nicht statt, Dialoge sind zu selten, um Rückschlüsse auf Motivationen zuzulassen, die Handlung ist teilweise zu diffus montiert, um sich ein übersichtliches Bild machen zu können. Vieles bedarf der Interpretation, der Auslegung, der Fantasie. Spannung in klassischen Sinne sucht man hier vergebens. Was bleibt, ist ein faszinierend bebildertes, mit treibendem Bass unterlegtes Kabinett der Gräueltaten, eine gekonnte Ästhetisierung unmenschlicher Brutalitäten und ein Musterbeispiel stilistischer Versiertheit, von dem man seine Augen und Ohren kaum abwenden kann. Am Ende wird Ryan Gosling nie wieder auf seine Hände starren. 

Laufzeit: 89 Min. / Freigabe: ab 16

Montag, 15. Juli 2013

THE GRANDMASTER


JAT DOI ZUNG
China, USA 2013

Regie:
Wong Kar-Wai

Darsteller:
Tony Leung Chiu-Wai,
Zhang Ziyi,
Jin Zhang,
Chang Chen,
Wang Qingxiang,
Song Hye-kyo,
Bruce Leung Siu-Lung,
Julian Cheung



„Kung Fu. Zwei Worte. Waagerecht und senkrecht.“


Inhalt:

China, 1936: Kung-Fu-Lehrer Ip Man [Tony Leung] führt ein sorgenfreies Leben im Wohlstand. Seine Fähigkeiten bleiben nicht unbeachtet: Eines Tages kommt der alte Großmeister Gong Baosen [Wang Qingxiang] in die Stadt, um ihn zum Kampf herauszufordern. Dabei geht es Baosen nicht etwa um Hass: Er will die Fackel des Großmeisters zeremoniell an einen jüngeren, würdigen Nachfolger weiterreichen. Seiner Tochter Gong Er [Zhang Ziyi], ebenfalls eine großartige Kämpferin, missfällt die Idee allerdings: Noch nie wurde ein Mitglied der Gong-Familie im Kampf besiegt. Für sie bedeutet eine Niederlage einen nicht hinnehmbaren Gesichtsverlust. Als der Kampf zu Gunsten Ip Mans entschieden wird, fordert sie ihn ihrerseits heraus. Doch noch während ihres Kampfes mit ihm entdecken beide, wie sehr sie sich zueinander hingezogen fühlen. Sie brechen ihre Auseinandersetzung ab, verschieben die Fortführung auf einen späteren Zeitpunkt und trennen sich für viele Jahre. Als der Krieg über das Land hereinbricht, verliert Ip Man nicht nur seine Familie, sondern auch all seinen Besitz. Auch Gong Er erlebt eine Schreckenszeit, denn ihr Stiefbruder Ma San [Jin Zhang] hat sich mit den Japanern verbündet und ihren Vater ermordet. Seitdem plant sie ihre Rache. Das Schicksal führt Gong Er und Ip Man schließlich wieder zusammen.

Kritik:

Regisseur Wong Kar-Wai erwirtschaftete sich im Laufe seiner Karriere eine beachtliche Reputation für seine künstlerisch höchst wertvollen Bildstrecken, in welchen einwandfrei abgelichtete Figuren in Hotelzimmern herumstehen, um sich, von flauschigem Jazz untermalt, mit zaghaften Blicken unterdrückter Liebe sehnsuchtsvoll anzustarren. Das räumte in der Regel jede Menge Preise ab und ist auch tatsächlich sehr hübsch anzusehen, wenn es sich auch fraglos niemals den Nervenzerrer-des-Monats-Pokal ins heimische Regal stellen dürfte. Dass Wong sich dem Genre des Kampfkunstfilms widmete, war hingegen eher die Ausnahme. Gerade aus diesem Grunde jedoch stechen seine Ausflüge in die Welt der angriffslustigen Akrobatik auf erfreulich erfrischende Weise aus seinem Œuvre heraus: Wenn Wongs Charaktere, welche für gewöhnlich auf höchst geerdete Weise fühlen, leiden und lieben, sich, der Schwerkraft scheinbar entbunden, augenschmeichelnde Hand- und Fußgemenge liefern, ist das eine willkommene Abwechslung und eine gelungene Kombination aus Action und Anspruch.

THE GRANDMASTER ist nach ASHES OF TIME die zweite Exkursion Wong Kar-Wais in das Reich der anmutigen Kämpfer. Als Aufhänger diente dabei die Lebensgeschichte des Kung-Fu-Lehrers Ip Man, welcher dem Publikum spätestens seit Wilson Yips gleichnamigen Martial-Arts-Epos aus dem Jahre 2008 kein Unbekannter mehr ist: Der Patron der späteren Ikone Bruce Lee galt als Großmeister des Wing Chun und gleichzeitig Wegbereiter vieler späterer Kampfkünste. Relativ spät erst besann sich das um Legendenverklärung eifrig bemühte chinesische Kino dieser Figur, um sie dann jedoch so richtig wüten zu lassen: Nach Wilson Yips IP MAN und dessen Fortsetzung, gesellte sich alsbald noch Herman Yaus IP MAN ZERO dazu, welcher des Meisters jüngeren Jahre auf die Leinwand brachte und später ebenfalls in Serie ging. A
ll das taugte als hervorragend inszeniertes Prügelkino fraglos eine ganze Menge, war als Geschichtsstunde hingegen gänzlich unbrauchbar: Vor dem Hintergrund des zweiten chinesisch-japanischen Krieges wird Ip Man quasi zur guten Seele Chinas erklärt, zum einfachen Mann, der sich der Brutalitäten der japanischen Besatzer erwehren muss, um am Ende als überragender Held über alles und jeden zu triumphieren. Das ist zwar publikumswirksam und hochkarätig in Szene gesetzt, jedoch mehr Hirngespinst als Historie. THE GRANDMASTER, von den Spektakeln Wilson Yips und Hermann Yaus unabhängig produziert und auch bereits lange Zeit in Voraus geplant, bietet da eine überaus reizvolle Alternative, die ihre wunderbar fotografierten Kampfszenen mit einer beträchtlichen Schippe cineastischen Anspruchs verbindet. Tony Leung [→ HERO] agiert dabei in der Titelrolle wesentlich distanzierter als seine Kollegen Donnie Yen und Yu-Hang To von der Konkurrenz, was aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweise durchaus sinnvoll erscheint.

Nahm die Kampfkunst in ASHES OF TIME noch eine eher untergeordnete Rolle ein und diente lediglich als Ausdrucksform für die Wong-typischen Inhalte wie Einsamkeit, Liebe und Erfüllung, schien der Regisseur dieses Versäumnis mit THE GRANDMASTER gründlichst nachholen zu wollen: Quasi von der ersten Sekunde an widmet Wong sein in rauschende Bilder gepacktes Hochglanzprodukt dem Wesen des Kung Fu, zelebriert es in erlesenen Aufnahmen, feiert dessen Philosophie, vergöttert dessen Existenz. „Was mein Vater mich lehrte, war nicht die Technik, sondern der Gedanke, der dahinterstand“, lautet dann auch treffenderweise eines der wichtigsten Zitate (ausgesprochen von Zhang Ziyis Charakter Gong Er). Bereits wenige Minuten nach Beginn entfesselt eine bis ins kleinste Detail durchstilisierte Kampfsequenz einen wahren Rausch der Ästhetik, welcher auch bis zum Ende nicht mehr so recht aufhören möchte. Wong spielt seine Stärken perfekt aus und serviert bombastische Bildgefüge, für welche die Leinwand quasi erfunden zu sein scheint. Kein Wimpernzucken mutet zufällig an, jede Geste, jedes Wort ist Teil einer streng durchkalkulierten, hochkonzentrierten Komposition. Dass dabei auf bewährte ästhetische Mittel zurückgegriffen wird, mag nicht einfallsreich sein, dafür aber effektiv: Gekämpft wird wahlweise bei strömendem Regen, in vereister Schneelandschaft oder vor einen rasenden Güterzug – Szenen purer Kinetik, die einen, in ihrem dynamischen Wechsel aus Geschwindigkeit und Zeitlupe, Totale und Detailaufnahme, das Luftholen teilweise vergessen lassen.

Dass THE GRANDMASTER dennoch eine Abkehr brutaler Prügelarien darstellt, versteht sich von selbst: Hier werden Herzen gebrochen statt Knochen und anstelle von Blut fließen Tränen. Denn trotz allem bleibt es halt doch ein Werk Wong Kar-Wais, dessen Charaktere eben keine realitätsfernen Kampfstiere sind, sondern emotionsbefähigte Menschen aus Fleisch und Blut. Da wird eine Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau schon mal zum knisternden Quasivorspiel in der Schwerelosigkeit, während an anderer Stelle ein Kampf voller Ehrerbietung vorzeitig abgebrochen wird, sollte die Überlegenheit des Gegners erkannt sein. 
Im Hintergrund zog dabei einmal mehr Choreographie-Großmeister Yuen Woo-Ping [→ TRUE LEGEND] die Strippen – im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Protagonisten fliegen auch hier effektiv am Drahtseil durch die Landschaft. Das Ergebnis mag sich in seiner physikalischen Unmöglichkeit etwas beißen mit der seriösen Attitüde, sieht jedoch nach wie vor großartig aus. So wird der Sehnerv durchgehend angenehm gekitzelt; eine akribisch genaue Biographie des Lebens Ip Mans jedoch bleibt auch Wong Kar-Wai schuldig. THE GRANDMASTER liefert lediglich Momentaufnahmen und erlaubt sich unter Umständen schon mal gewaltige Zeitsprünge. Selbst ein solch wichtiger historischer Einschnitt wie der Angriff Japans auf China erfährt nur eine nebensächliche, wenn auch äußerst effektvoll umgesetzte Abhandlung (was natürlich auch einen Verzicht auf das klassische Feindbild bedeutet, welches Wong Kar-Wai ohnehin nicht unterstützt hätte). Tatsächlich wird Ip Man als vermeintlicher Hauptprotagonist nach geraumer Zeit sogar zunächst im Stich gelassen, um sich weiteren Charakteren zu widmen.

Vor allem liegt der Schwerpunkt dabei auf Gong Er, die anfängliche Kontrahentin, spätere heimliche Liebe Ip Mans, gewohnt blassnäsig, doch überaus einnehmend verkörpert von Zhang Ziyi [→ DIE GEISHA], die als zierlicher Racheengel einige große Momente für sich verbuchen darf. So lehnt sie, gierig nach Vergeltung für den Tod ihres Vaters, alle guten Zurufe, allein der Himmel habe über das Schicksal des Mörders zu entscheiden, energisch ab: „Vielleicht bin ich die Rache des Himmels!“, entgegnet sie lautstark und verlässt mit entschlossenem Blick die Versammlung. Neben Verräter und Vatermörder Ma San [Jin Zhang (→ DAS KÖNIGREICH DER YAN)], ist der Auftragsmörder „Rasiermesser“ [Chang Chen (→ TIGER & DRAGON)] die vierte wichtige Figur, welcher Wong Kar-Wai sich widmet. Recht plötzlich eingeführt und fast ebenso schnell wieder fallengelassen, lässt es sich jedoch vermuten, dass ein Großteil seiner Geschichte auf dem Boden des Schneideraums gelandet ist. Hätte er nicht ebenfalls eine großartige Kampfszene, wäre man sogar fast versucht zu behaupten, dass man auf den Charakter ebensogut hätte verzichten können. Dennoch ist 
ist klar, worauf Wong hinauswollte: Jede einzelne Figur verkörpert einen Aspekt des Kung Fu. Jede Figur muss sich entscheiden, wie und wieso sie ihre Fähigkeiten einsetzt. Im Effekt ergibt das ein überaus komplexes Mosaik über das Wesen der Kampfkunst und ihre verschiedenen philosophischen Blickwinkel. Und am Ende stehen sich Ip Man und Gong Er wieder gegenüber, um sich mit zaghaften Blicken unterdrückter Liebe sehnsuchtsvoll anzustarren. Doch wirkt das darauf folgende Lippenbekenntnis weder albern, noch banal, sondern gehört zu den berührendsten Dialogzeilen, die man in einem Martial-Arts-Film zu hören bekommen kann. 

THE GRANDMASTER setzt erfolgreich das fort, was Ang Lee und Zhang Yimou einst mit TIGER & DRAGON und HERO begannen: Die Verknüpfung des einst ausschließlich als primitiver Gewalttumult verschrieenen Kung-Fu-Films mit den höheren Weihen des Arthouse-Kinos. Das Ergebnis ist ein eindrucksvoller, in gleißend-goldgelbes Licht getauchter, perfekt montierter und choreographierter Sinnesrausch, der Freunde ästhetischer Bildgestaltung in die Hände klatschen lässt. 
Nur der gewinnt, der stehenbleibt“, erklärt Tony Leung als Ip Man die Regeln des Kung Fu. THE GRANDMASTER steht noch.

Laufzeit: 120 Min. / Freigabe: ab 12